Ja, haben sie es denn etwa nicht gemerkt? #Brexit

Stolz sind sie. Sie haben es geschafft. England ist raus. Wird zumindest vermutet. Doch irgendwie kommt mir ein anderes Bild in den Kopf: „Auf jeder Party gibt es einen, der zu viel trinkt und anschließend erst feststellt, welchen Bockmist er da gebaut hat“. Und plötzlich sind alle ganz betroffen. Katerstimmung.

Ich habe mich lange zurückgehalten, doch inzwischen platzt mir der Kragen. Ich schaffe es tatsächlich nicht mehr, meine Finger still zu halten. Also geht meine Mittagspause drauf. Insbesondere, weil hierzulande die Populisten loslegen, als ob es kein Halten gäbe. Denn sie übersehen etwas. Ihre eigen Dummheit. Dumm auch, dass deren Wähler exakt darauf hereinfallen. Offenbar gibt es davon zu viele.

Die Rechtspopulisten in ganz Europa übersehen diesen Umstand freilich, und sie feiern sich. Sie übersehen auch den Umstand, dass die englische Politik im Moment quasi inexistent ist. Sie ist nicht mehr da. Beide Parteien zerlegen sich gerade selbst, und das absolut fachgerecht. Es gibt niemanden mehr, der die Verantwortung übernehmen möchte. Und es gibt vor allem – zumindest im Moment – niemanden, der Artikel 50 der Lissabonner Verträge in Kraft treten lassen möchte. Diesen Makel will niemand. Keiner ist so doof, sich das an’s Revers zu heften. Wo ich mich hier gerade so schön in Rage schreibe, rappelt meine Smartwatch und informiert mich über nachfolgenden Sachstand:

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Hatte ich eigentlich schon mal erwähnt, dass derjenige, dem ich dieses hochwertige Gerät in meiner Hosentasche und das dazu passende, adäquate Zubehörteil an meinem Handgelenk ein Sohn eines syrischen Migranten und einer deutschen Migrantin ist? Nicht? Egal. Zurück zum Thema:
Wir haben – mit Verlaub – mit Cameron den vermutlich dümmsten Politiker der EU zu beklagen. Er hat ein Land ohne Not an den Rand des Abgrund geführt, und vermutlich noch darüber hinaus. Oder hat er sich verzockt? Zocken mag ja ein britisches Hobby sein…

Es am Ende wohl tatsächlich lediglich Zockerei gewesen und mehr nicht. Ich meine die Zockerei, die Thatcher schon damals begonnen hatte? Mit Verlaub, die Briten gingen mir ständig auf den Sack. Bei allen Entscheidungen für die Themen, die mir besonders am Herzen lagen, haben sie das Maul aufgerissen, sie haben ständig interveniert. Neoliberalismus war für sie immer Nummer eins. Ebenso das Thema Überwachung, die Abschaffung von Rechten oder das Thema Einwanderungspolitik. Natürlich traten sie beim Thema Bankenreformen auf die Bremse – legten Gottseidank hinterher einen Zahn zu. Die waren beim Thema wie man den anderen am besten auf die Nerven gehen kann jedoch immer ganz vorne dabei. Deren Abgeordnete haben mir mächtig gestunken.

Zudem haben sie Juncker am Nasenring durch die Manege geführt, als es auch zuletzt um die Aushandlung des Britenrabattes ging. Ich kann seinen Groll, und auch den von Martin Schulz selbstverständlich sehr gut nachvollziehen. Das Verhalten der Herrschaften aus England war schon damals bis heute – mit Verlaub – unter aller Würden. Ich möchte anhand dieses britischen Prachtexemplar Nigel Farage belegen:

UK steckt hinter dem Einfluss der Amerikaner auf die EU und ist 5-Eyes, wie wir wissen. Der GCHQ hat an Überwachungstechnik aufgefahren, was man sich wünschen kann. Die Hommage an die Geheimdienste von James Bond letztem Streifen scheint bei der Bevölkerung nicht angekommen zu sein. Das war wohl zu abstrakt.

Wirklich alle haben versucht, beruhigend auf die Briten einzuwirken. Alle haben versucht, zu deeskalieren, doch Cameron hat das Spiel weiter gespielt. Die Briten wurden jahrelang konditioniert, und zwar von beiden Parteien. Die EU ist der Blitzableiter. Alles schlechte, alle Folgen Ihrer eigenen, misslungenen Politik sei ja bedingt durch die EU, sofern man ihren Worten glauben schenken wollte. Der Britenrabatt, für jenen wir alle gezahlt haben, der wurde freilich nicht erwähnt. Sie haben, sofern ich das so sagen kann, fortlaufend genervt. So sehr, dass ich mir einen Brexit tatsächlich auch in Ansätzen gewünscht habe.

Die Brexit-Befürworter haben gewonnen und sie haben doch verloren.

Haben sie es denn nicht gemerkt? Haben sie nicht gesehen, dass der Bus von Boris Johnson eine Farce war? Haben sie nicht gesehen, dass sie, sofern UK aus der EU herausfliegt, sie überhaupt gar keinen Einfluss mehr haben?

Denn wenn sie am Binnenmarkt teilhaben wollen, müssen sie sich – ähnlich Norwegen – den gleichen Bedinungen stellen. Sie sind ihre Konzernlokationen los. Sie haben keinen Einfluss auf die Bedingungen. Und sie haben keinen Rabatt mehr. Auch die Banken sind ihren Vorsprung los, quasi das wichtigste Element, jenes UK versucht hat zu schützen, wie den eigenen Augapfel. Sie haben quasi nichts mehr. Sie sind raus. Sie sind die Verlierer. Diejenigen, die keiner mag. Selbst schuld.

Es könnte ein abschreckendes Beispiel sein. Eine Warnung an alle anderen, diesen Bockmist ebenfalls zu machen.
Doch es scheint in deren Köpfen nicht anzukommen. Offenbar haben einige die Einschläge nicht gespürt. In sozialen Netzen lese ich, wie sehr sich die Briten freuen. Sie fordern insbesondere die Polen auf, Ihr Land zu verlassen. Menschen fühlen sich unwohl. Es waren also nicht die falschen wirtschaftlichen Versprechungen, sondern unverhohlener, ekelhafter Hass gegen „Ausländer“. Wenn die Briten jedoch wirtschaftlich überleben wollen, sind sie mit dieser Meinung auf dem Holzweg. Fremdenhass ist in der Europäischen Rechnung nicht inkludiert. Es bedeutet ganz klar: Macht Ihr die Grenzen zu, ist Ende mit Handel.

borisjohnsonEine große Lüge von Boris Johnson.

 

Jetzt ist die Blase geplatzt, möchte man meinen. Wir können bald bessere Politik betreiben, sofern der Zug den Fahrplan fährt, wie angedacht. Spätestens im Oktober in zwei Jahren. Wir Deutschen sind nicht mehr der Buh-Mann des Planeten. Wir wären den Klassenclown los.

Wirklich? Wir sollten mal die Luft anhalten!

Zu allererst: Es tut mir leid. Sehr leid für die nächsten Generationen aus Großbritannien. Sehr leid für die junge Generation. Sehr leid für diejenigen, die die Vorteile der EU klar erkennen. Jene, welche die Wichtigkeit dieser Gemeinschaft, wie wir sie haben, anerkennen und wertschätzen. Erasmus ist tot. Auch für diejenigen, die in England studieren. Es hat keine Zukunft mehr.

Es gibt zwei Typen von Menschen, denen man die Rechnung präsentieren darf. Es sind die konservativen Besitzstandswahrer und es sind Ungebildete und Fremdenhasser. Wie wir jetzt wissen, hauptsächlich die älteren Menschen. Und es kotzt mich in besonderen Maße an, dass diese Menschen eine Entscheidung für die junge, moderne, liberale und offene Generation treffen, jene exakt einen Brexit nicht will und niemals unterstützen würde. Nicht einmal ein Mord hat sie dazu angehalten, einmal nachzudenken.

Und bevor wir jetzt das Maul ganz weit aufreißen und über Großbritannien herziehen, sollten wir mal kurz besinnen. Die Argumente, die da verwendet wurden, die kennen wir nur allzu gut. Es sind die Argumente, die insbesondere eine Partei verwendet, um das Volk und andere Konservative vor sich herzutreiben. Es sind die Mittel, die sie nutzen, die auch hier bekannt sind. Die Stilmittel, die nach mehr Überwachung, mehr Grenzen, mehr Ausländerfeindlichkeit und mehr angeblichen „Schutz“ vor dem Islam fordern. Es sind auch die Ausdrücke, die wir aus den Montagsdemonstrationen aus Dresden kennen. Es sind vor allem die Mittel, die das, was wir haben, zerstören: Eine offene Gesellschaft. Sie sind rückwärtsgewand. Sie sind gestern. Und sie sind gefährlich.

Dumm ist also, dass wir exakt diesen Typus Mensch auch in unserer Bundesrepublik haben. Und wir haben diejenigen, die auf diese einfachen Lösungen hereinfallen. Die Lösungen, die keine sind. Die Lösungen, die große Fehler sind. Und dabei sollten es die älteren Menschen doch wissen. Oder war früher tatsächlich alles besser?

Warum sind es die jungen Menschen, die am liebsten mit einem Geschichtsbuch durch die Straßen laufen würden, um es eben diesem Typus Mensch auf den Kopf zu schlagen?

Die Folgen sind auch wirtschaftlich bedenklich. Zu allererst für Großbritannien. Die Top-Konzerne der Briten stürzen in’s Bodenlose. Das Pfund wird abstürzen. Die Immobilienfonds werden platzen. Und dann passiert das, was in solchen Situationen immer stattfindet: Die Geier kreisen am Himmel. Im Moment sind es vornehmlich diejenigen, die daraus Kapital schlagen wollen, z.B. die „neue“ Börsenhauptstadt Frankfurt. Wahrscheinlich haben da schon die Champagner-Korken geknallt.

Vielleicht ist es ja doch ein heilsamer Weckruf. Einer, der erkennbar macht, dass Boris Johnson’s Bus wohl doch eher eine Finte war. Man habe das ja alles nicht so gemeint. Kennen wir übrigens auch aus Deutschland. Aussage kanalisieren, anschließender Rückzieher. Mal so testen, was geht.

Ich glaube jedoch nicht, dass die Menschen, die so gewählt haben, argumentativ oder geistig erreichbar sind. Sie sind zu blöd, zu erkennen, was sie an der EU haben. Irgendwann werden sie vergessen, welchen Kummer und Schmerz die gebildete und junge, britische Bevölkerung erdulden musste. Und dann werden auch andere wieder so stimmen wollen, wie es die Briten getan haben. Erstmals kann sich der Rechtspopulismus wieder auf die Fahnen schreiben, etwas geschafft zu haben: Blanke Zerstörung. Jobkiller. Verzweiflung und Kummer. Er sollte nicht mehr belächelt werden. Es sind nicht nur Spinner, die da agieren. Die erreichen mit Ihrer Dummheit auch Menschen. Menschen, die ähnlich dumm sind. Diejenigen, die nicht zwei Schachzüge, sondern nur einen Schachzug weit denken können.

Was steckt dahinter?

Die Begründung ist simpel. Zumindest versuche ich ihn so zu dokumentieren, auch wenn mir einfache Antworten stinken: Die Briten waren die ersten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt haben. Der Neoliberalismus zog – billige Arbeitskräfte kamen, sie wurden gerufen. Es gab jedoch keine Standards, keinen Mindestlohn und passende Schlupflöcher, die die Migranten nutzten. Sie schufteten wie die Berserker, die Löhne gingen in den Keller. Der britische Bürger sieht den Migranten infolge der neoliberalen Politik als Konkurrent. Blanker Hass entsteht. Doch ist die Lohnsituation in UK die Schuld der Migranten? Es hätte die Politik in London sein können, die die Spielregeln definiert. Und so ist es auch hier, in Deutschland. Neoliberalismus fördert Hass. Spielregeln hätten dem Einhalt gebieten können, doch dem ist nicht. In den Lägern bei Amazon arbeiten Kräfte aus Rumänien, Polen und der Tschechei. Dem Konzern kann ich – wie schon so oft geäußert – nicht vorwerfen, dass sie den Bedingungen ihrer Aktionäre folgen, die Ausbeutung des Menschen ist die Grundlage. Es passiert das, was immer passiert. Plötzlich kann man sogar sagen, wie dumm man ist: Man kann Hass gegen Ausländer vermeintlich öffentlich ausdrücken. Dumm, dass man den Zustand, den man hat, selbst gewählt hat.

Die Menschen sehen nicht weiter, sie sehen nicht die Schuld in London, obwohl die Logik eine Tatsache und unverrückbar ist. Der Neoliberalismus ist zudem tief in der britischen Seele verwurzelt. Die EU hat daran keinerlei Schuld. Denn würden die Spielregeln in London für Arbeitnehmer anders definiert, dann gäbe es mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmer und mehr Wohlstand. Dann wäre auch das Wahlergebnis des Referendums mit Sicherheit ein anderes.

Ein Referendum wird im übrigen immer nur dann zugelassen, wenn der Populismus bereits gewonnen hat, wenn also die Stimmung in der (mit Verlaub) verdummten Bevölkerung gekippt ist. Es werden genau diejenigen gewählt, die ihnen nicht gut tun.

Auch hierzulande passiert das. Die AfD ist laut Programm das Schlimmste, was sich die eigenen Wähler eigentlich ausmalen müssten. Und genau das sollte den Menschen doch auffallen, sie sollten es bemerken. Doch dafür müsste man nicht einen, sondern mindestens zwei Schachzüge weit denken können.

Und jetzt?

Noch ist nicht Oktober. Ein Austritt muss laut Artikel 50 im Parlament debattiert werden. Doch das steht nicht an, denn die Politik in UK ist komplett demontiert, quasi handlungsunfähig. Ein Drängen der anderen Mitglieder auf baldigen Austritt ist überaus verständlich, jedoch nicht zweckdienlich. Und so sehr sich die Banker in Frankfurt auch freuen, es kann alles, ganz plötzlich, ganz anders kommen.

Ich möchte sagen: Besinnt Euch. Ihr könnt die EU kritisieren. Mit Recht. Was Juncker da tut, mag Euch stinken – und ja, mir geht er auch gewaltig auf den Zünder, mit seinen Alleingängen. Sicher, Ihr müsst ihm und einigen anderen den Weg weisen. Kritisiert, aber dann bitte konstruktiv. Denn Ihr braucht die EU. Möglicherweise auch, wenn Ihr es als etwas elitäres haltet, da ihr die Vorzüge gar nicht unmittelbar nutzt. Die Vorzüge habt Ihr dennoch. Monatlich, auf Eurem Konto. Noch.

Das U in EU, Union, das steht für ein Miteinander, ein für den anderen da sein. Keine Kriege, das heißt EU auch. Und es steht für Toleranz und Offenheit. Und Ihr habt die Möglichkeit, daran mitzuwirken. Und es ist auch notwendig, dass ihr das macht.

EU steht auch dafür, dem anderen, sofern er Bockmist baut, den rechten weg zu zeigen oder mit gutem Beispiel voran zu gehen.

Euch sollte klar sein, dass Rechtspopulisten gefährlich sind. Sie bieten vermeintlich einfache Antworten, doch es sind die falschen, für die doch ein wenig komplexeren Themen. Um das zu begreifen, solltet Ihr aufhören, dumme Presse zu lesen. Ihr solltet Euch informieren. An Orten, die Ihr noch nicht besucht habt. Ihr solltet Euch mit der Geschichte dieses Landes befassen. Dann werdet Ihr merken, dass die jungen Menschen, die Euch mit einem Geschichtsbuch erschlagen wollen, tatsächlich recht haben.

Rechtspopulismus ist gefährlich. Und es ist eine Lüge. Nichts weiter.